Hanseatisches Oberlandesgericht
2. Strafsenat

2-30/09(REV)
1 Ss 77/09

Leitsätze von Joachim Breu

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  1. Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig auch dann, wenn die Nebenklage nur für einzelne Taten aus dem gesamten, dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt förmlich zugelassen wurde. Die Zulassung der Nebenklage hat deklaratorischen Charakter. Die Nebenklägerin muss bei späterer Verbindung mit weiteren (nebenklagefähigen) Taten nicht jedes Mal klar stellen, dass sie sich auch insoweit dem Strafverfahren anschließt.

  2. Lässt sich aus einer Anklage kein konkreter Vorfall individualisieren, ist sie wegen fehlender Umgrenzung der prozessualen Tat unwirksam; es fehlt an einer Verfahrensvoraussetzung.

  3. Bei wiederholbaren Handlungen wird die Tat nur durch konkrete Angaben zu Tatzeit, -ort, -ausführung und ggf. weiteren Individualisierungsmerkmalen hinreichend bestimmt. Je größer die Verwechslungsgefahr, desto konkreter muss die Tatschilderung erfolgen. Berichtet die Geschädigte von laufenden Verstößen, ist diese Angabe zu hinterfragen und ggf. nach zu ermitteln. Greift die Staatsanwaltschaft dennoch ohne weitere Aufklärung drei Vorfälle aus einer größeren Menge potenzieller gleichartiger Taten heraus, macht das die Anklage unwirksam. Diese Anforderung darf wegen des Rechtsstaatsprinzips nicht dazu führen, dass gewichtige Lücken in der Strafverfolgung entstehen. Bei seriellen Handlungen, die sich trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht weiter konkretisieren lassen, können deshalb Angaben zum Geschädigten, die Grundzüge von Art und Weise der Tatbegehung, zum Tatzeitraum sowie Mindest- bzw. Höchstzahl der vorgeworfenen Taten genügen. Diese Abschwächung wurde für länger zurückliegende, an kindlichen Opfern begangene Sexualstraftaten entwickelt. Mit Vorwürfen des § 4 GewSchG ist das nicht vergleichbar.

  4. Das Tatgericht hat den Sachverhalt auch dann umfassend aufzuklären und seine tatsächlichen Feststellungen im Urteil mitzuteilen, wenn es die in der Anklage vorgeworfene Rechtsverletzung nicht sieht. Zu seiner Kognitionspflicht gehört es diejenigen Tatsachen mitzuteilen, die aus seiner Sicht die prozessuale Tat ausmachen, § 264 StPO.

  5. Bei § 4 Gewaltschutzgesetz handelt es sich um eine Blankettnorm, deren Verbotsgehalt sich aus der zu Grunde liegenden zivilgerichtlichen Entscheidung ergibt. § 4 ist jedoch nicht entscheidungsakzessorisch, deshalb müssen die tatsächlichen Voraussetzungen und die materielle Rechtmäßigkeit der zivilgerichtlichen Anordnung durch das Strafgericht eigenständig ohne Bindungen an die zivilgerichtliche Entscheidung festgestellt und gewürdigt werden; lediglich die Rechtmäßigkeit des zivilgerichtlichen Verfahrens bleibt ausgeklammert.

    Das Strafgericht hat selbst zu prüfen, ob die in § 1 GewSchG niedergelegten Tatbestandsmerkmale bei der Anlasstat vorliegen. Der der zivilgerichtlichen Anordnung zu Grunde liegende Sachverhalt ist in den Gründen des Strafurteils darzustellen. Eine Anordnung bedarf weiter der Zustellung. Dass dem Angeklagten die Anordnung bekannt war, hat das Gericht unabhängig vom zivilrechtlichen Zustellungserfordernis festzustellen, weil nur die vorsätzliche Begehung von § 4 GewSchG strafbar ist.

  6. Eine im Scheidungsverfahren ergangene einstweilige Gewaltschutz-Anordnung tritt nicht mit Rechtskraft der Scheidung außer Kraft, denn ein Gewaltschutzverfahren ist mit der nur prozessual verbundenen Scheidungs-Hauptsache inkongruent.

  7. Die Befristung einer Gewaltschutz-Anordnung ist dazu bestimmt, einer Verletzung des Übermaßverbotes vorzubeugen. Hat das Zivilgericht die Anordnung entgegen § 1 Abs. 1 GewSchG nicht befristet, muss nachträglich das Strafgericht entscheiden, ob die Anwendung des § 4 GewSchG noch verhältnismäßig ist. Maßgeblich in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere Art, Intensität und Dauer der Rechtsgutverletzungen, die zu der Gewaltschutz-Anordnung geführt haben, sowie Anzahl, Art und Gewicht nach Erlass der Anordnung verwirklichter oder angedrohter Verletzungen im Verhältnis zur Schwere des Eingriffs in die Rechte des Angeklagten gegen das Verhaltnismäßigkeitsgebot verstößt und eine Bestrafung ausscheidet.